Der Traum
Du warst eingeschlafen, aber nicht auf die gewöhnliche Art.
Es war mitten am Tag gewesen. Du hattest dich nur für einen Moment hingelegt, müde von der Arbeit, und dann… nichts mehr.
Und jetzt stehst du hier, in diesem endlosen weißen Raum, und vor dir steht jemand, der aussieht wie dein alter Nachbar. Grauer Pullover, Brille, unscheinbar.
„Bin ich tot?“ fragst du.
„Nein,“ sagt er und lächelt. „Du träumst.“
„Das ist aber ein sehr lebendiger Traum.“
„Alle Träume sind lebendig,“ erwidert er. „Du merkst es nur normalerweise nicht.“
Du siehst dich um. Nichts als Weiße, soweit das Auge reicht. „Wer bist du?“
„Ich bin der Teil von dir, der immer wach ist. Der, der zuschaut, während du träumst, der zuhört, während du denkst.“
„Das ergibt keinen Sinn.“
„Doch, tut es.“ Er geht ein paar Schritte. „Weißt du, was du die letzten vierzig Jahre gemacht hast?“
„Gelebt?“
„Geträumt,“ korrigiert er. „Dieses Leben, das du für real hältst – deine Arbeit, deine Familie, deine Sorgen – das ist nur einer von unendlich vielen Träumen.“
Du starrst ihn an. „Das ist verrückt.“
„Ist es das? Erklär mir den Unterschied zwischen einem sehr lebendigen Traum und dem, was du Realität nennst.“
Du öffnest den Mund, aber dir fällt keine Antwort ein.
„Ein Leben nach dem anderen,“ fährt er fort, „träumst du verschiedene Existenzen. Manchmal als Bäcker, manchmal als Königin. Manchmal in Afrika, manchmal in Island. Und jedes Mal denkst du, dieser Traum sei real.“
„Aber das hier… das fühlt sich anders an.“
„Das liegt daran, weil du jetzt zwischen den Träumen bist. Hier, wo ich immer bin. Der stille Beobachter.“
Eine lange Pause entsteht.
„Was passiert jetzt?“ fragst du schließlich.
„Du gehst zurück. Träumst ein neues Leben. Vielleicht wirst du als Künstlerin in Paris geboren. Oder als Fischer in Japan. Oder als Wissenschaftlerin, die Sterne erforscht.“
„Werde ich mich an dieses Gespräch erinnern?“
„Nein. Aber ein Teil von dir wird wissen. Der Teil, der ich bin. Der Teil, der immer da ist, immer zuschaut, immer versteht.“
„Warum träume ich überhaupt?“
Er lächelt wieder, sanft diesmal. „Weil Träume die einzige Möglichkeit sind, unendlich zu sein. In jedem Traum erlebst du eine andere Version der Existenz. Zusammen ergeben sie alles, was möglich ist.“
„Und wann höre ich auf zu träumen?“
„Niemals,“ sagt er. „Aber eines Tages wirst du erkennen, dass du der Träumer bist. Und dann…“
„Und dann?“
„Dann wirst du bewusst träumen können.“
Du fühlst, wie du bereits zu verblassen beginnst, zurück in den nächsten Traum gezogen wirst.
„Warte,“ rufst du. „Wird es immer so einsam sein?“
„Du bist nie allein,“ sagt er, während seine Stimme ferner wird. „In jedem Traum begegnest du dir selbst in tausend verschiedenen Gestalten. Jeder Mensch, den du liebst, jeder Fremde, dem du begegnest – das bin auch ich. Das bist auch du.“
Und dann schickte er dich zurück in den nächsten Traum.
Letzte Bearbeitung am Samstag, 6. September 2025 – 18:24 Uhr von Alex, Webmaster für Google und Bing SEO.